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50 Jahre Nelkenrevolution

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50 Jahre Nelkenrevolution | Video verfügbar bis 28.04.2025 | Bild: Reuters / Pedro Nunes

Portugal begeht den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution: Am 25. April 1974 beendet ein weitgehend unblutiger Militärputsch mit Blumen in Gewehrläufen 48 Jahre faschistische Diktatur. Es ist der Beginn einer bis heute stabilen Demokratie. Doch 50 Jahre nach dem, in diesen Tagen noch einmal mythisch gefeierten Ereignis, erringen Rechtspopulisten einen dramatischen Wahlerfolg, reißen alte Wunden wieder auf. "Portugal – die unmögliche Revolution?" nennt der irische Autor Phil Mailer seinen jetzt erschienen Augenzeugenbericht von 1974. "ttt" trifft ihn und einen Nachgeborenen, den Schriftsteller Hugo Goncalves, in Lissabon – damals das Pilgerziel von jungen Revolutions-Sympathisanten aus ganz Europa.

Eine Revolution für die Freiheit

Publizist und Zeitzeuge Phil Mailer
Publizist und Zeitzeuge Phil Mailer | Bild: Das Erste

Lissabon, 25. April 1974. Soldaten der linken "Bewegung der Streitkräfte" haben Mühe, die Menschen zurückzuhalten: Am Largo de Carmo, in der Zentrale der Geheimpolizei PIDE, hat sich Portugals letzter Diktator verschanzt. Das ist das Leben, soll Marcelo Caetano gemurmelt haben, als die Putschisten ihn herausholten. Damals lebt der junge Ire Phil Mailer als Englischlehrer in Lissabon – er wird ungläubiger Augenzeuge des Geschehens. "Ich war anfangs total überrascht, hatte erstmal keine Ahnung, was da vor sich ging. Meine Nachbarin weckte mich. Sie stand im Pyjama vor meiner Tür, klopfte und fuchtelte mit den Armen als seien sie Waffen: Verlass das Haus nicht, geh nicht zur Arbeit, geh nicht raus, das ist gefährlich! Ich war begeistert", erzählt Publizist und Zeitzeuge Phil Mailer.

"Portugal, die unmögliche Revolution?"

Phil Mailer "Portugal – Die unmögliche Revolution?"
Phil Mailer "Portugal – Die unmögliche Revolution?" | Bild: Das Erste

Phil Mailer ist damals 28, er denkt und fühlt links. Nach der Revolution bleibt er in Lissabon, bis heute. Seine Erlebnisse damals schildert er in einem vom Aufbruchsgeist jener Tage durchwehten Buch, das auch das spätere Scheitern im Titel führt: "Portugal, die unmögliche Revolution?" "Ganz Lissabon, vor allem junge Leute, waren auf der Straße. Sie liefen den großen Boulevard, die Avenida da Liberdade hinunter und konnten nicht glauben, dass sie es taten, dass keine Polizei sie stoppte. Sie liefen die Avenida wieder hoch, erneut herunter und noch mal hoch. Irre – wir trauten unseren Augen nicht", so Mailer.

Ein Triumph der Freiheit über die Unterdrückung

Schriftsteller Hugo Goncalves
Schriftsteller Hugo Goncalves | Bild: Das Erste

Der faschistische Estado Novo, 1932 gegründet von António Salazar, kollabiert nach wenigen Stunden: ein Ständestaat zwischen Privilegien und Rückständigkeit, in dem die Geheimpolizei PIDE Regimegegner verfolgte, folterte, ermordete. In Afrika führt Portugal 1974 gleich drei zermürbende Kolonialkriege – bis das Militär selbst die Reißleine zieht. "Die Revolution beendet 48 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert Diktatur. Sie ist der Triumph der Freiheit über die Unterdrückung. Damals siegt in Portugal das kritische Denken, die Freiheit des Ausdrucks und ja: der Gedanke der Aufklärung über die geistige Verdunklung", erzählt Schriftsteller Hugo Goncalves.

Der Mythos des 25. April entsteht

"Revolução" von Hugo Goncalves
"Revolução" von Hugo Goncalves | Bild: Das Erste

In seinem neuen Roman erzählt der Schriftsteller Hugo Goncalves, wie die Nacht zum 25. April 1974 Portugal und die Portugiesen verändert hat. Jener Moment, kurz nach Mitternacht, in dem das katholische Radio Renascenca dieses Lied spielt, das mit den Putschisten verabredete Startsignal für die Operation "Regimewechsel". Der Song des linken Barden Zeca Afonso ist der Soundtrack, wird zur Hymne der nur fast unblutigen Revolution: Vier Menschen sterben, als die Geheimpolizei doch noch das Feuer eröffnet. Dann ist der Alptraum vorbei. Auf der Straße verbrüdern sich Volk und Militär – so materialisiert sich ein Traum, entsteht der Mythos des 25. April, das Selbstverständnis des neuen Portugal. "Büroangestellte, Frauen bringen den Soldaten Kaffee und Brote. Das finde ich köstlich und sehr portugiesisch – man kann doch nicht mit leerem Magen Revolution machen! Und es gibt die Zärtlichkeit in dem Bild, das alle kennen: die Nelken in den Gewehrläufen. Gewehre, die vor kurzem noch im Krieg getötet haben: Jetzt stecken Blumen drin", so Goncalves.

Der Moment der Utopie – alles scheint möglich

Am 1. Mai sind Hunderttausende auf Lissabons Straßen. Jahrzehnte der Diktatur haben sie still gelitten, jetzt skandieren sie: Ein einiges Volk kann niemand besiegen! Es ist der Moment der Utopie, alles scheint möglich. Arbeiter besetzen ihre Fabriken. Selbstverwaltung ist die Losung oder: "Keiner zahlt Miete!" Im Alentejo wächst die Hoffnung, übernehmen Bauern die Latifundien der Großgrundbesitzer, gründen Kooperativen. Niemand ahnt zu dieser Zeit, dass schon bald die alten Besitzverhältnisse wiederhergestellt, all die kreativen Träume Geschichte sein werden. "Was in Portugal geschah, war täglich auf den Titelseiten der Zeitungen in ganz Europa. Und dort sorgten sie sich sehr, wohin das alles führen könnte", erzählt Phil Mailer. Die Revolutionäre sind uneins: Ideologische Richtungskämpfe, provisorische Regierungen, radikale Forderungen: Portugal, seit 1949 Mitglied der NATO, soll raus aus der NATO. Der Westen fürchtet ein kommunistisches Portugal – und verstärkt den Druck.

Ein Putsch konservativer Militärs beendet die Nelkenrevolution

50 Jahre Nelkenrevolution in Lissabon
50 Jahre Nelkenrevolution in Lissabon  | Bild: IMAGO / Joao Daniel Pereira

Am 25. November 1975 beendet der Putsch konservativer Militärs die Nelkenrevolution, ebnet den Weg zum Kapitalismus, aber auch zur Demokratie. Der Sozialist Mario Soares wird der erste frei gewählte Premier. "Ich hatte das Glück, diese wundervolle Bewegung erleben zu dürfen. Die besten 18 Monate meines Lebens! Am Ende war alles nur ein Sturm im Wasserglas. Sie haben es geschafft, alles zurückzudrehen. Die Revolution ist – implodiert", erzählt Phil Mailer. "Es gab damals die Hoffnung auf eine ganz neue Gesellschaft, ein ganz anderes Leben. Was wir am Ende hingekriegt haben, ist eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Ich sage: Nicht schlecht. Erst mal kennen wir nichts Besseres", so Hugo Goncalves.

50 Jahre nach der Revolution

Jahrestag der Nelkenrevolution
Jahrestag der Nelkenrevolution | Bild: Reuters / Pedro Nunes

Die Kaserne der Geheimpolizei am Largo do Carmo ist heute ein Museum. 50 Jahre danach verblasst die Erinnerung, trotz frisch getünchter Revolutions-Reminiszenzen an den Wänden. Bei der Wahl im März 2024 räumt die gegen Migranten und die EU hetzende Partei Chega ab, ihre Themen: Korruption, Wohnungsnot, Zukunftsangst. Die Demokratie hat ein Problem, nun auch in Portugal. "Dass der Kampf um unsere Demokratie schwierig und kompliziert wird, habe ich begriffen, als ich auf TikTok das Video von zwei, vielleicht Dreizehn- oder Vierzehnjährigen sah: Sie sehen André Ventura, den Chega-Chef zufällig auf der Straße vorbeigehen – und reagieren auf ihn, als sei ihnen gerade Taylor Swift erschienen", erzählt Hugo Goncalves.

Lissabon am Jahrestag: Über dem romantisch illuminierten Jubiläum liegt der Schatten des Rechtsrucks. Doch auch viele junge Portugiesen demonstrieren mit der Nelke für eine Zukunft ohne Angst und Hass – für die Erinnerung an eine Revolution.  

Autor: Andreas Lueg

Buchtipp
Portugal – Die unmögliche Revolution?
Phil Mailer
Edition Nautilus

Stand: 28.04.2024 18:44 Uhr

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